Russlands Westen und das Baltikum

Die Tage in Moskau vergehen schnell und wir sind begeistert von der Stadt, die grün, freundlich und modern anmutet. Ein bisschen haben wir uns auf ein lärmendes, versmogtes und zugebautes Moloch eingestellt, doch Moskau überrascht uns und wir wären gerne länger geblieben, wenn das kurze russische Visum uns nicht zur Weiterreise drängen würde.

700 Kilometer trennen uns noch von Lettland und das erste, was uns auffällt ist die dichtere Besiedlung. An den meisten Lagerplätzen bleiben wir nicht lange allein. Am 22. Juni ist Sommersonnenwende, ein Samstag und der länste Tag des Jahres. In der Nähe von Moskau ist es in dieser Nacht nur 2 Stunden dunkel und das auch nicht richtig. Gefühlt ist an diesem Tag das ganze Land in der Natur und allerortens treffen wir auf grillende und trinkende RussinInnen. Wollen wir an einem schönen Platz zelten, bleiben wir nicht lange allein, also gilt es, möglichst angenehme Gesellschaft zu finden. Unsere Wahl fällt auf eine Gruppe mit Kindern und bereits üppig belegtem Grill. Die Entscheidung wird belohnt, und nachdem wir selbst anfangen zu kochen, kommen wir ins Gespräch und werden zum leckeren Picknick mit Wein eingeladen.

Die Strecke nach Westen gleicht einem Tunnel, rechts und links ist durchgehend dichter Wald und dazwischen die schnurrgerade Straße. Aber der erste Anblick täuscht, hinter dem Wald liegen nette Dörfer und eine große Zahl an Badeseen, perfekt zum Zelten. So vergehen ein paar Tage, bis uns dann doch der Regen einholt, der uns bis heute nicht verlassen hat. Das zur gleichen Zeit Westeuropa von einer Hitzeperiode heimgesucht wird, ist für uns schwer vorstellbar. Ein paar Kilometer abseits der Hauptstraße ist ein kleines Dorf mit einem Gästehaus eingezeichnet. “Ist bestimmt nicht teuer,” denken wir und es ist auch Zeit für einen Pausetag. Nach längerem Suchen finden wir die Herberge, ein altes Holzhaus mit knarzenden Dielen, großen Holzöfen und undichtem Dach. Es gibt eine Küche aber kein Bad, zum Waschen müssen wir in den See, der nur einen Steinwurf entfernt ist. Also perfekt für uns und wir erholen uns prächtig, schlafen lange und backen Pizza und Kuchen.

Dann sind wir auch schon an der Grenze. Endlich sind wir wieder in der EU. Macht eigentlich keinen Unterschied, es gibt weiterhin viel Wald, viele Seen und die Menschen sprechen russisch. Irgendwie fühlt es sich trotzdem gut an. In der ersten Nacht fragen wir einen älteren Bauern, ob wir auf seiner Wiese zelten dürfen. Auf die Frage, ob er vielleicht russisch spricht, antwortet er halb empört mit “Ich bin Russe!”. Etwa 27 Prozent der Menschen in Lettland sind ethnische Russen, die 1940 und nach 1944 von der Sowjetunion dort angesiedelt wurden. Mittlerweile gehören die meisten der 2. und 3. Generation an, die in Lettland geboren wurden und ihr gesamtes Leben dort verbrachten haben. Die russische Zugehörigkeit ist jedoch geblieben und die Identifikation mit Lettland gering, die meisten sprechen kein Lettisch. Immer wieder gibt es Spannungen und besonders wohl gelitten ist die Minderheit bei vielen LettenInnen nicht. Die lettischen Behörden geben sich auch nur wenig Mühe ihr Misstrauen zu verbergen. Obwohl niemand in den Gebieten lettisch spricht, ist es verboten Straßen oder Geschäfte mit russischen Beschriftungen zu versehen. Auch die Amtssprache ist lettisch. Eine Frau erzählte uns von der absurden Situation, dass sie bei ihrer Hochzeitszeremonie kein Wort verstand, da die Standesbeamtin kein Russisch sprach.

Lettland ist ein kleines Land und nach zwei Fahrradtagen sind wir schon in Litauen. Zur Überquerung der Grenze müssen wir nicht mal vom Fahrrad steigen, nur ein Schild klärt uns über den Länderwechsel auf. Schengen ist schon eine tolle Sache merken wir, nachdem wir so viele hochgerüstete Grenzen überquert haben. Auch in Litauen sind wir noch immer auf russischsprachigem Gebiet. Unsere erste Station ist Visaginas. Eine Kleinstadt, die in den 1970er Jahren für die MitarbeiterInnen des nahe gelegenen Atomkraftwerkes gebaut wurde. Dieses kam jüngst zu einiger Prominenz, da dort die HBO Serie Chernobyl gedreht wurde. Der Reaktor war fast baugleich mit dem in Tschernobyl und ähnlich störanfällig. Auf Betreiben der EU wurde er 2009 stillgelegt und die Stadt Visaginas verlor ihre Existenzgrundlage. Geblieben sind die (fast ausschließlich russischen) Menschen dennoch, auch wenn fast die Hälfte der Sowjetblocks leersteht. Neben dem typischen Sowjet-Plattenbau-Charme gab es für uns noch ein Grund die Siedlung zu besuchen. In einem leerstehenden Gebäude hat der gebürtige Visaginer Alex eine Künstlerresidenz errichtet und damit einen in dieser Region einmaligen Platz für Kreativität, Offenheit und Vielfalt geschaffen. Auf vier Stockwerken ist jede Person willkommen und kann sich künstlerisch austoben, sich mit anderen austauschen oder einfach nur ein Buch lesen oder Spiele spielen. Die übervoll bemalten Wände, auf denen alle, unabhängig von sexueller Orientierung, Herkunft oder Glaube willkommen geheißen werden, stoßen in dem konservativen Umfeld auf viel Skepsis. Doch Alex behauptet sich gut und freut sich immer über Besuch, also bleiben wir zwei Tage und tauchen in den morbiden Charme der bröckelnden Plattenbauten ein.

Zwei regnerische Fahrradtage später erreichen wir Vilnius, wo uns Martinus in seinem Loft empfängt. Drei Tage und Nächte treiben wir durch die malerische Altstadt und berauschen uns an dem quirligen Nachtleben, der positiven Energie der jungen Bevölkerung und dem tollen kulturellen Angebot. Nun haben wir wirklich das Gefühl wieder in Europa zu sein.

 

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *